Adventskalender Tag 5

sessel

Gedanken

von Hansjürgen Wölfinger

Ich sitze in meinem Sessel, eine Zeitung in den Händen haltend. Wohlige Wärme erfüllt den Raum und umhüllt meinen Körper.
Meine Gedanken schwirren umher und mein Blick springt wie ein Pin-Pong-Ball von einem Extrem ins andere.
Ich versuche meine Augen auf einen Punkt zu fixieren und zwinge meine Gedanken sich zu beruhigen.
Langsam, wie eine schwere Dampflok keuchend anfahrend, beginne ich zu lesen.
Ich lese von Ereignissen, von jenen, die ich wie in Trance überfliege, oder von solchen, die ich in mich aufsauge, wie ein trockener Schwamm das Wasser.
Ich versuche meinen Blick für einen Moment von diesen kleinen und großen hässlichen schwarzen Buchstaben zu lösen.
Doch sie halten diese direkte Linie wie ein Band fest.
Mein Gehirn registriert diese Buchstaben, die aneinandergereiht mir Dinge vermitteln welche mir die Zornesröte in das Gesicht steigen und Tränen meine Augen befeuchten lässt.
Ich schließe meine Augen. Gedanken werden frei; Gedanken die sich weiter fortpflanzen, während ich meinen Kopf langsam hin zum Fenster drehe.
Zaghaft öffne ich sie und mein Blick trifft auf den weißen Schnee, der mich für einen kurzen Moment Schmerz spüren lässt und die Gedanken für diesen Bruchteil unterbricht.
Gedanken, die in Mikrosekunden wie ein Film an mir vorbeiflitzen.
Ich sehe Menschen mit fetten Bäuchen, wie sie schwitzend braungebratene Hühnchen verschlingen.
Ich sehe Kinder mit aufgedunsenen Bäuchen und vorgestreckten Händen nach Nahrung betteln.
Ich sehe kahle Bäume die den Sauerstoff produzieren sollen, den wir atmen.
Ich sehe Schornsteine der Fabriken farbig rauchen und Blechlawinen rasen.
Ich sehe Männer in Uniformen vor tobenden Menschenmengen große Reden schwingen.
Ich sehe Menschen, getötet von denselben auf der Erde liegen.
Ich sehe Mütter weinend ihre Kinder gebären.
Ich sehe Kinder, von ihren Eltern misshandelt.
Ich sehe Tiere wie sie friedlich dösend ihren Traum erleben.
Ich sehe Kreaturen wie sie aufgeschlitzt und gefoltert zum Wohle der Menschheit ihr Dasein fristen.
Ich sehe aber auch Menschen, die für Gerechtigkeit und Frieden leiden.
Die sich für andere Prügeln lassen.
Die gegen Missstände protestieren.
Die das Wort “Christ” nicht nur schreiben können.
Ich sehe Menschen am Weihnachtsabend Geschenke verteilen, sehe sie beten, höre sie singen.
Sehe keine Toten am Boden liegen, höre keine Kinder nach Nahrung schreien.
Rieche nur die heile Welt.
Gedanken die wortlos sagen:
Warum, warum kann es nicht jeden Tag so sein.

Noch 19 Tage bis Heiligabend